

Mitte des 19. Jahrhunderts war eine Sehbehinderung gleichzusetzen mit Armut und Elend. Kinder blieben ohne Ausbildung und waren auf das Betteln angewiesen. Wer durch einen Unfall oder eine Erkrankung das Augenlicht verlor, stand umgehend am Rande der Gesellschaft. Freiherr Moritz von Gagern gründete 1861 in Wiesbaden den Verein zur ›Unterhaltung einer für das Herzogtum Nassau bestimmten Blindenschule‹. Ihr Zweck sollte sein: ›blinde Menschen beiderlei Geschlechts ohne Unterschied der Konfession durch Unterricht und Erziehung zu Mitgliedern der Gesellschaft heranzubilden‹.
Da der Bedarf riesig war, herrschte schnell Platzmangel. Glücklicherweise war von Gagern außerordentlich geschickt und wurde unterstützt von einflussreichen Menschen in Wiesbaden. So konnte 1864 ein eigenes Schulgebäude auf dem Riederberg errichtet werden. 1909 schließlich kam das weithin sichtbare, weiße Gebäude oberhalb des Blindenheims hinzu.
Während des Ersten Weltkriegs wurde das Heim geräumt und als Lazarett genutzt, die Schule aufgelöst. Der Verein übernahm 1923 als ›Nassauische Blindenfürsorge e. V.‹ das ursprüngliche Gebäude. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging der Neubau in den Besitz Hessens über – heute ist dort das Landesvermessungsamt untergebracht.
Das ursprüngliche Gebäude blieb Eigentum des Vereins und konnte saniert und erweitert werden. Dort leben sehende und nicht sehende Menschen, körperlich Behinderte, demenziell Erkrankte und allgemein Pflegebedürftige aller Pflegegrade miteinander. In Erbenheim führt die Stiftung ein weiteres Pflegeheim für Wohngruppen.

Vereins zeugt von den Wirrungen der vergangenen 160 Jahre.
FAMILIÄRES MITEINANDER
Ein gemeinnütziger Verein steht hinter dem Seniorenheim der ›Nassauischen Blindenfür- sorge e. V. für blinde und sehende Menschen‹ mit Pflflegeeinrichtungen in der Wiesbadener Riederbergstraße und in Erbenheim. VivArt Lebenszeit sprach zum 160-jährigen Bestehen mit der Einrichtungsleiterin und Geschäftftsführerin Petra Anderhub.
Frau Anderhub, in ihren Einrichtungen leben Blinde und Sehende zusammen. Worauf kommt es dabei an?
Neben vollstationärer Pflege und Grundversorgung unserer Bewohnerinnen und Bewohnern kommt es uns auf ein familiäres Miteinander an. Im Gegensatz zu den 1970er-Jahren, als ich in den Beruf eingestiegen bin und wo es vor allem um die körperliche und medizinische Versor- gung ging, stehen heute auch soziale und emotionale Bedürfnisse sowie individuelle Kompetenzen und Ressourcen unserer Bewohner im Mittel- punkt. Unsere soziale Betreuung lädt zu zahlreichen Aktivitäten ein.
Der Einzug in ein Seniorenheim ist eine immense Veränderung.
Wie begleiten Sie das?
Wir suchen sehr früh den Kontakt zu den künftigen Bewohnern und deren Angehörigen. Wir versuchen über Gespräche, Hausbesichtigungen – gern bei einer Tasse Kaffee und einen Biografie-Fragebogen uns möglichst intensiv zu Gewohnheiten und Bedürfnissen auszutauschen. Wir betreuen vor allem die Generation von Menschen, die im Krieg groß geworden und nicht sehr geübt darin sind, ihre Bedürfnisse zu formulieren. So gibt es Frauen, die eine gewisse Scheu vor männlichem Personal haben – man kann sich dazu seinen Teil denken. Für uns ist es selbstverständlich, darauf proaktiv einzugehen. In diesen ständigen Prozess ist das gesamte Team involviert, ob medizinisches, pflegerisches oder hauswirtschaftliches Personal. Natürlich gilt das auch in der Sterbephase, die wir hier dank unserer Qualifikationen und mit dem ›Zentrum für ambulante Palliativversorgung‹ ZAPV, den Hausärzten und allen externen Bereichen begleiten können. So ist es für die Bewohner nicht notwendig, zuletzt das gewohnte Umfeld zu verlassen.
Die Einrichtung kann sich also auf die sich wandelnden Bedürfnisse einstellen?
Ja, das ist wichtig, da gerade neue Bewohner zunächst sehr zurückhaltend sind und oft keine Mühe machen möchten – sie wollen uns nicht stören. Wenn sie sich eingewöhnen und Beziehungen knüpfen, öffnen sich die meisten und es entsteht ein tolles Miteinander zwischen Bewohnern, Angehörigen und Mitarbeitern. Dann kommt vielleicht eine Phase, in der es gesundheitlich schlechter geht und man mehr Ruhe wünscht. Dies wird respektiert und ein Zimmerservice für die Zeit gewährleistet. Wichtig ist, dass wir einen stabilen Tagesablauf aufrechterhalten und ›dranbleiben‹, also Beschäftigungsmöglichkeiten aufzeigen, ohne Druck auszuüben.

Gilt das für beide Standorte?
Ja! Wir haben den Anspruch, in beiden Einrichtungen mit relativ gleichen Standards zu arbeiten. Unsere Mitarbeiter helfen sich untereinander aus, was wir mit gleichen Standards und Abläufe in beiden Häusern erleichtern. Wir haben in unseren Einrichtungen kleine Wohnbereiche mit jeweils zehn Bewohnern, die von unseren angelernten tollen Pflegehelfern exzellent betreut werden. Hinzu kommen gut ausgebildete Pflegefachkräfte für die medizinische Betreuung, die den Helfern mit Rat und Tat zur Seite stehen. Die soziale Betreuung und unsere Hauswirtschaft komplettieren die Fürsorge in allen Lebenslagen.
An den Standorten am Riederberg und in Erbenheim leben Menschen mit und ohne geistige oder körperliche Behinderung zusammen. Warum?
Wir behalten den Schwerpunkt auf Hilfe bei Sehbehinderungen, nehmen uns aber aller altersbedingten Behinderungen an. Dafür haben wir ein lebenswertes Umfeld geschaffen, das für alle angenehm ist. Unser Ziel ist es, die Gemeinschaft zu fördern. Jede Person verfügt über Fähigkeiten und Ressourcen, welche in die Gemeinschaft eingebracht werden und erhält dort Hilfe zurück, wo er sie dann braucht. So leben bei uns demenziell erkrankte Menschen mit in der Gemeinschaft. Orientierte Bewohner übernehmen für sie gern eine Art der Fürsorge und stärken damit den Pflegekräften den Rücken, beispielsweise beim gemeinsamen Essen. Das verpflichtet uns alle zu einem sehr sorgsamen Umgang mit unseren Ressourcen und den zur Verfügung stehenden Mitteln, zugleich schätze ich es sehr, dass keine Organisation mit einem Gewinn- und Profitstreben hinter uns steht. Wir sind unserem Vorstand sehr dank- bar, dass wir eine gewisse Selbstständigkeit in unserer Arbeitsweise und das familiäre Arbeitsklima pflegen dürfen.

Die Organisation als Verein zahlt also auf das Miteinander ein?
Ich denke schon. In unserer täglichen Arbeit ist es ein ständiges Geben und Nehmen in allen Bereichen. Also ich zahle ein und bekomme etwas zurück.Wir pflegen unser Motto ›Wir sind eine Familie‹ sehr, im Um- gang innerhalb des Teams, mit den Bewohnern und deren Angehörigen. Dies gelingt vor allem dank unseres Stammpersonals und aufgrund des Vertrauens, das uns die Angehörigen entgegenbringen. Wichtig dabei ist aber auch der wertschätzende Umgang durch die Leitungsebene mit allen Beschäftigten – auch mit neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die in Zukunft gern dazugehören möchten.
Das ist bei dem Kampf um Pflegekräfte nicht einfach …
Natürlich haben wir Fluktuation durch Babypausen oder private Veränderungen. Aber viele Mitarbeiter fühlen sich wohl und schätzen die Pflege in kleineren Einheiten, wo man für zehn bis 13 Bewohner verantwortlich ist. Die Türen der Pflegedienstleitung Frau Kronemann in Erbenheim und auch bei Herrn Boateng in der Riederbergstraße oder auch meine Tür stehen im- mer offen für unsere Mitarbeiter. Das ist wichtig, um auch mal auf kurzem Wege etwas zu entscheiden. Wir ermutigen unsere Mitarbeiter, sich gegenseitig zu unterstützen. So kann die Belastung durch die Pflege von Menschen mit sehr fordernder Persönlichkeit auf mehrere Schultern verteilt werden.
Außerdem versuchen wir, die Wünsche der Mitarbeiter bei der Gestaltung der Dienstpläne zu berücksichtigen. Des Weiteren bieten wir eine zusätzliche Altersversorgung für unsere Mitarbeiter, tarifbezogene Gehälter, vermögens- wirksame Leistungen, Fort- und Weiterbildungen sowie gemeinsame Aktivitäten im Haus an, um unsere Wertschätzung zu zeigen und dem Burn-out des Personals vorzubeugen.
Die Wertschätzung kommt also vom Team?
Ja, was von staatlicher Seite kommt, gleicht die Belastung nicht aus, vor al- lem nicht die sozialen und seelischen Schwierigkeiten, die unser Beruf auch mit sich bringen kann. Deshalb ist ein gutes Verhältnis untereinander und mit der Leitung so wichtig. Die Wertschätzung kommt aber vor allem auch von den Bewohnern selbst und deren Familien, die unsere Offenheit sehr schätzen. Ich habe schon so oft erlebt, dass Angehörige hier saßen und mit sich gerungen haben, einen Elternteil oder Ehepartner in die pflegerische Betreuung zu geben. Ich versuche diese Last zu nehmen. Einen schwer kranken Menschen zu betreuen, ist höchst anspruchsvoll und niemand sollte sich schämen, dafür Profis in Anspruch zu nehmen. Ich sage dann: ››Achten Sie auf sich und Ihre eigene Gesundheit und auf Ihre Familie, da Sie noch gebraucht werden. Überlassen Sie uns die Pflegearbeit und kommen Sie für die schönen Stunden hierher, für einen Spaziergang, einen entspannten Besuch oder auf einen Ausflug, um Eis essen zu gehen mit Ihren Liebsten. Davon haben alle Beteiligten mehr. Und wir lieben unseren Beruf mit all seinen Herausforderungen.‹‹
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