Reich an Stil

Das Museum Wiesbaden wurde vom Ehepaar Neess reich beschenkt. Seit drei Jahren ist im Südflügel die größte europäische Privatsammlung des Jugendstils, Art Nouveau und Symbolismus als Gesamtkunstwerk unter dem Namen ›Jugendstil-Schenkung von Ferdinand Wolfgang Neess‹ zu sehen.

Das um 1893 entstandene Porträt eines ›Bretonischen Mädchens‹ von Ludwig Ferdinand Graf

Madame Neess, wie fühlt es sich an, einen unschätzbaren Reichtum
zu verschenken?

Tatsächlich lässt sich der Wert der Sammlung kaum beziffern. Um den
monetären Wert ging es uns nie, sondern um Ästhetik. Mein Mann erwarb seit den 1970er-Jahren Spitzenqualität – von jedem Künstler nur das Beste. So bescheiden er selbst war, so prächtig gestaltete er die Sammlung in der Villa Neess hier in Wiesbaden. Ich war atemlos vor Begeisterung, als ich sie das erste Mal sah! Aber Jugendstil ist nicht jedermanns Sache. Ferdinand war ein Gentleman, hat aber sehr selektiv in die Villa eingeladen. Für ihn war jedes Exponat wie ein Kind, um das er sich bemüht hatte, das er schätzte und liebte. Empfand das jemand als ›kitschig‹ oder ›überladen‹, war das eine regelrechte Kränkung. Umso schwieriger war zu entscheiden, was mit dieser Schatztruhe geschehen sollte. Es gab zwei Alternativen: Entweder einzelne Stücke verkaufen – damit hätte man einen fulminanten Lebensabend finanzieren können. Oder die Sammlung erhalten und für die Öffentlichkeit zugänglich machen. Wir haben uns für diesen Weg entschieden, um das Lebenswerk meines Mannes zu erhalten. Deshalb war es eine große Erleichterung, als wir die Schenkung an das Museum Wiesbaden 2019 abschließen konnten. Nicht zuletzt dank des Kustos Dr. Peter Forster, der ihren Wert erkannte und den nicht einfachen Weg, jedes einzelne Exponat zu übertragen, mit uns gegangen ist. Schließlich hat die Sammlung ihr neues Zuhause gefunden. Mein Mann war darüber sehr glücklich.

Danielle Neess neben dem von ihr für die Jugendstil-Sammlung erworbenen Mand- Olbrich-Konzertflügel

Ein Jahr nach der Schenkung ist er 90-jährig verstorben. 

Das ist der eigentliche, schwere Verlust. Aber er hat noch erlebt, dass die Sammlung breite Aufmerksamkeit beim Publikum und in den internationalen Medien erfährt. Und ich sehe, wie sein Werk gewürdigt wird und er darin weiterlebt. Diese gemeinsame Leidenschaft fürs Sammeln war unser Reichtum – erfüllte Jahre mit Wind und Wetter, Gesundheit und Krankheit, Schicksalsschlägen und sehr glücklichen Stunden. Viele Menschen verwechseln Reichtum mit Wohlstand. Nicht Geld macht reich, sondern das Leben.

Schön gesagt! Wiesbaden konnte seinen Sammlungsschwerpunkt durch Ihre Schenkung substanziell erweitern und das Museum gehört nun zur European Art Nouveau Route. Wie ist Jugendstil zu Ihrer Leidenschaft geworden?

Mein Mann hat mich angesteckt. Mir war klar, dass ich mich mit dem Jugendstil sehr intensiv auseinandersetzen möchte. Wir haben hier in Wiesbaden im wahrsten Sinne des Wortes mit der Sammlung gelebt, denn es handelt sich um Dinge des täglichen Lebens wie Möbel, Service, Bestecke, Teppiche, Spiegel, Literatur. Dabei ist manches im Alltag nicht zu gebrauchen wie unser ›Seerosentisch‹. Oder denken Sie an die Tischleuchte ›Danseuse à l’écharpe‹ – eine Hommage an die Elektrifizierung, die auf der Pariser Weltausstellung 1900 mit einer Goldmedaille prämiert wurde. Ferdinand hat mir in 16 gemeinsamen Jahren als ›mein Professor‹ eine eigene Welt erschlossen.

Einblicke in den Südflügel des Museums Wiesbaden

Seine Leistung ist umso bemerkenswerter, als er Autodidakt war. Sie setzen das Sammeln fort, haben dem Museum gerade das Werk ›Der Tod und das Mädchen‹ zukommen lassen, geschaffen von Friedrich König, einem Mitbegründer der Wiener Secession.

Ein wunderbares Gemälde aus dem Jahr 1912. Was mich an der Sammlung nach wie vor begeistert, ist ihre Internationalität. Diese kulturelle und menschliche Offenheit brauchen wir gerade jetzt, wo es gilt, zusammenzuhalten. Niemand sollte sich in einer ›Blase‹ abgrenzen.

Tatsächlich gilt der Jugendstil als letzte gemeinsame internationale Kunstsprache.

Zwischen 1866 und 1914 herrschte ein großer kultureller Reichtum, der an nachfolgende Generationen weitergegeben werden sollte. Es hat einen Anfang, darf aber kein Ende haben. So viel gibt es aus dieser Zeit noch zu entdecken! Die hochkarätige Fachbibliothek, die wir im nächsten Schritt der Schenkung öffentlich zugänglich machen wollen, soll dazu beitragen. Allerdings fehlt dafür bislang der Platz im Wiesbadener Museum.

Außerdem fördern Sie eine spezielle Leidenschaft Ihres Mannes, das Flötenspiel. Sie haben in Zusammenarbeit mit Cordula Hacke den Internationalen Flötenwettbewerb mit Musik aus der Zeit des Jugendstils und Symbolismus ins Leben gerufen und ein Stipendium ausgeschrieben.

Ja, ich kann mein Wissen nicht als Pädagogin weitergeben. Aber die Sammlung sichtbar zu machen, sogar zu erweitern, und junge Menschen über Musik den Zugang zu der Epoche zu ermöglichen – das tue ich mit Leidenschaft und nehme zur Not im Museum auch mal das Staubtuch zur Hand, wenn es sein muss.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Neess! 

Sammlung F.W. Neess

Museum Wiesbaden
Friedrich-Ebert-Allee 2
65185 Wiesbaden
0611 3352250

Öffnungszeiten:
Di, Do 10–20 Uhr, Mi, Fr 10–17 Uhr,
Sa, So, Feiertage 10–18 Uhr 
Mo geschlossen


museum-wiesbaden.de/jugendstil


Große Kunst

Junge Fotografie und mehr

Junge Fotografie und mehr

Dirk Becker über das neue Projekt ›Chromfeld‹ – eine Mischung aus Verlag, Galerie und Kulturseite – und über die Idee, ... Weiterlesen
Quadratisch, praktisch, Kunst

Quadratisch, praktisch, Kunst

Wiesbaden sähe heute an vielen Stellen anders aus, gäbe es Jörg Jordan nicht. Vivart Lebenszeit portraitiert und interviewt den Ehrenbürger, ... Weiterlesen
Vorlaut

Vorlaut

Meinungsstarke junge Frauen werden oft als vorlaut bezeichnet. Dieses Stereotyp existiert bereits seit den frauenpolitischen Bewegungen der 60er-Jahre und wird ... Weiterlesen

Aus der Gesellschaft

Automenschen – Über die Freiheit auf vier Rädern

Automenschen – Über die Freiheit auf vier Rädern

In dieser Ausgabe nehmen wir uns Automobilist*innen vor, ›Selbststeuernde‹, die wohl erst mit den autonomen Vehikeln, an denen seit Jahrzehnten ... Weiterlesen
Gutes Design ist Ehrensache

Gutes Design ist Ehrensache

Wegwerfartikel oder Qualitätsprodukt? Ob einem Gebrauchsgegenstand ein langes Leben beschert ist, hat sehr viel mit seinem Design zu tun. Welche ... Weiterlesen
Sie nannten es Arbeit — zwischen Great Resignation & New Work

Sie nannten es Arbeit — zwischen Great Resignation & New Work

In diesem Sommer nehmen wir uns, angespornt von aktuellen Diskussionen zur Vier-Tage-Woche, New Work und Nachrichten aus den USA zur ... Weiterlesen

Restaurant Tipps

Anständig essen!

Anständig essen!

Soll man eine Küche feiern, die ohnehin viel bewundert wird? Aber ja doch! Denn ein Blick in die vielen Restaurantkritiken ... Weiterlesen
›Iss mich!‹ ›Trink mich!‹

›Iss mich!‹ ›Trink mich!‹

Wir von VivArt waren schon länger eingeweiht und wussten, was die Frankfurter unter dem schlicht wirkenden Signet MAIN TAPAS LOUNGE ... Weiterlesen
EXTRAORDINÄR

EXTRAORDINÄR

Dirk Becker zu Besuch bei Billy Wagner im ›Nobelhart & Schmutzig‹ in Berlin, wo er den Menschen und Produkten der ... Weiterlesen
Juwelier Oberleitner

Werbung

VivArt Abo Anzeige

Werbung

Waldorf Astoria

Werbung

Zeit für dich

Kurztrip mit allem, was man so will!

Kurztrip mit allem, was man so will!

Wer kennt es nicht: Ein, zwei Tage mal rauskommen tut uns doch allen gut. Unsere VivArt-Redakteurin Tabea Becker hat es ... Weiterlesen
Idstein Spezial

Idstein Spezial

Unsere Geheimtipps für Sie! ... Weiterlesen
Kurztrip nach BORDEAUX?

Kurztrip nach BORDEAUX?

Was mit dem PKW eher eine Tour für zwei Tage bedeutet, kann nun mit der Deutschen Bahn von Frankfurt aus ... Weiterlesen
Ein paralleles Universum

Ein paralleles Universum

Es erfordert immer Kraft, mit einer starken Haltung durch den Alltag zu gehen. Wie viel mehr noch, wenn man selbst ... Weiterlesen

Leckere Rezepte

Oladky zum Vernaschen!

Oladky zum Vernaschen!

Abwechslungsreich, originell und absolut köstlich! Kennt ihr die Schätze der ukrainischen Küche, traditionelle georgische Gerichte und die Rezept-Highlights aus Aserbaidschan? ... Weiterlesen
Spinat Gnocchi mit brauner Butter

Spinat Gnocchi mit brauner Butter

Annette Spamer wurde die Liebe zu gutem Essen in die Wiege gelegt. »Ich bin in einer Familie, die in sechster ... Weiterlesen
APFEL-BIRNE-SCHAUMSÜPPCHEN MIT FENCHEL UND ZIMT-CROUTONS

Apfel-Birne-Schaumsüppchen mit Fenchel und Zimt-Croutons

Apfel-Birne-Schaumsüppchen mit Fenchel und Zimt-Croutons von Annette Spamer ... Weiterlesen
Geschmurgelte Kichererbsen und Zwiebel mit Feta und Oregano

Geschmurgelte Kichererbsen und Zwiebel mit Feta und Oregano

Gemütliches Beisammensein mit den Liebsten bei leckerem Essen und unbeschwerten Gesprächen – genau dieses Lebensgefühl spiegelt die populäre Food-Bloggerin Alison ... Weiterlesen

Mode & Fashion

Zur Kultur des Geschmacks

Zur Kultur des Geschmacks

Seit der Avantgarde erlebten die Moden eine immer weiter um sich greifende Demokratisierung. Seit der industriellen Revolution befinden wir uns ... Weiterlesen
Mode ist eine Rüstung

Mode ist eine Rüstung

Zu den großen Fragen der Mode – Warum kaufen Frauen Schuhe, auf denen sie nicht laufen können? Wie ist es ... Weiterlesen
International shoppen

International shoppen

Mode für die Masse ist nicht die Sache von Luciano Emerick de Andrade, der mit Elan die gleichnamige Boutique auf ... Weiterlesen