
Die Anlagen für Stil bilden sich etwa seit Anfang der 1960er-Jahre in jener Lebensphase, in der man am offensten und experimentierfreudigsten ist und sich oft auch am glücklichsten fühlt. Diese erstreckt sich von der Pubertät bis zum Ende der Ausbildung, also bevor wir uns von neuen Abhängigkeiten wie eigener Familie, Job und Besitz wieder vereinnahmen lassen. Manchmal manifestiert sich auch fast keine Präferenz und dann sollen uns die Moden helfen.
In diesem Abschnitt probieren wir uns aus, demonstrieren die Kluft und suchen die Unterscheidung – von unserem Elternhaus, von Lehrenden und Mitschüler*innen. Wählen uns umso genauer die Peergroup aus, deren Stilmittel wir uns aneignen. Es ist die gefährlich faszinierende Ambivalenz von ›Masse und Macht‹, wie sie Elias Canetti in seinem Jahrhundertwerk glänzend beschrieb. In dieser Auseinandersetzung mit der Masse und dem Druck der Gruppe finden und prägen wir unseren Look, der meist bis in die mittleren Lebensjahre als Stil weiterverfolgt und modifiziert wird — oder hängen bleibt wie der ewige casual Skaterlook, die Steppjacke oder die Tigerente.
Damit wurde auch die Mode zum politischen Statement. Wir möchten dazugehören und trotzdem herausstechen, den einen bedeutet das Freiheit, andere überfordert die Auswahl. Bis auf Oscarverleihungen, strenge Clubtüren oder Nobelpreis-Dinner gibt es kaum noch Anlass für Kleiderordnungen, und das ist gut so. Sonst würden uns womöglich noch immer wie in Nordkorea Haarschnitte vorgeschrieben, dürften wir kein königsblau oder kardinalrot gefärbtes Kleidungsstück tragen, müssten unverheiratete Frauen ihren Status schon im Kopfputz signalisieren oder hätten sich bis zur Unfruchtbarkeit in Korsagen zu schnüren. Der emanzipatorische Aspekt der verschwundenen Kleiderordnungen ist sicherlich der wichtigste!
Die Konventionen der Kleidung lockerten sich gewiss seit der Aufklärung, dadurch wurde die Mode praktischer, schmeichelnder und komfortabler. Zusammengebrochen sind sie allerdings an ihren Persifla-gen in der Neuzeit: Man denke nur an die wie ein Rollo unters Kinn schnalzende Hemdbrust bei Stan Laurel & Oliver Hardy oder an die Karikatur des Snobs mit Melone und Stöckchen im abgerissenen Look von Chaplin.
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Mode kann man kaufen – Stil muss man haben.
Coco Chanel (1883–1971)

Eigentlich begann das sogar noch etwas früher im Fin de Siècle in der Distinktion zwischen dem Dandy, der sich wie Oskar Wilde Maßanzüge und rahmengenähte Schuhe leisten konnte, und seinem Fake, dem müffelnden Bohemien, der sich secondhand kleidete, dann aber eine clown-
eske Riesenfliege band wie Charles Baudelaire. Nach den wilden Zwanzigerjahren ist der Lack dann wirklich ab. Der Herrenreiter mit Stresemann und Homburger ist bereits eine Witzfigur – oder ein Fresssack auf den Bildern von George Grosz. Und mit Marlene Dietrich wird offensichtlich, dass Frauen Hosen sowieso besser stehen.
Frühe Trends entstanden auch gern im Mangel wie der Look der Existenzialisten, die sich in abgelegtes Zeug der französischen Marine kleideten. Bleiben wir kurz bei der Uniform, denn es ist interessant, wie leicht aus dieser Konvention Anti-Stile geboren wurden. In der Modewelt funktioniert das heute noch, man nennt es Codeverschiebung. Erinnern wir uns an Bert Brecht und seine Arbeiterjacke, mit der er seine Sympathie fürs Proletariat ausdrückte. Von der der Schriftsteller Hans Sahl, der einmal unbemerkt in Brechts Kleiderschrank kibitzte, berichtet, er hätte sieben hängen sehen und eine besonders edle für festliche Anlässe. Auch der paramilitärische Look der Fremdenlegionäre, die nach de Gaulles
Rückgabe Algeriens im Zivilleben den klassischen gerippten Militärpullover zum raspelkurzen Bürstenschnitt trugen, gehört hierher. Ebenso wie die Forderung von Joseph Beuys, dass sich jeder angehende Künstler zunächst eine eigene Uniform schaffen müsse. Damit wurden viele Kunstschaffende selbst zum modischen Ikon.
Dennoch bedeutet es Draufgängertum, herausstechen zu wollen. Denn machen wir uns nichts vor, so wie in vielen Teilen Asiens die Kasten in der Gesellschaft nach wie vor sehr lebendig sind, kann man bis heute unschwer die Typen identifizieren, die die Arbeit und das Geld aus uns machen. Kleider machen nach wie vor Leute und Mode öffnet Türen. Rund 760 Euro gaben EU-Bürger*innen im Schnitt 2020 für Kleidung aus und wir Deutschen sollen nach einer Prognose von Statista die US-Amerikaner*innen in den Ausgaben für Kleidung 2025 überholen. Seit 1991 geben wir kontinuierlich 55–60 Milliarden Euro im Jahr für Bekleidung aus. Ein gewaltiger Konsum, der selten nachhaltig ist, auch wenn es redliche Ausnahmen gibt.
Was schon in der Hinsicht bemerkenswert ist, dass es praktisch kaum noch Orientierung gibt. Keine klassischen Modezaren mehr, dafür Myriaden an sich überlagernden Trends. Es bleibt heute weitgehend unausgesprochen, was geht oder was abgeschmackt ist, also eben nicht geht. Überhaupt scheint man Geschmack haben zu müssen oder man hat ihn nicht; ob er gut oder schlecht ist, lässt sich nicht mehr wahrhaftig sagen. Letztlich ist das eine Frage von guten Manieren, wenn man Tom Ford fragt – oder der Höflichkeit, wenn man es wie wir mit der Kulturwissenschaftlerin Barbara Vinken hält: »Die Mode muss, wenn sie weiterkommen will, die Grenzen des Geschmacks immer wieder erweitern und überwinden. Mode lebt vom Tabubruch. Etwa: Parka überm Abendkleid. Etwas anziehen, was passend unpassend ist: Das ist der Anfang der Mode.« Immer mit der Gefahr, sich auch bös zu verheben. Denn diese sensible ›Line of Taste‹ wird erst sichtbar, wenn sie übertreten ist.
Wir haben trotzdem gefragt: Was ist für Sie guter Stil und was halten Sie für geschmacklos?
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Eleganz hat überhaupt nichts mit Mode zu tun, sondern mit Stil.
Karl Lagerfeld (1933–2021)
Cover / Titelstory Fotos
Fotografin: Fee-Gloria Grönemeyer
Styling: Sakuya Aoyaki & Viluxsaya Boonjongrux
Model 1: Peeraya Pechpansri @pplearn
Model 2: Maria @sskreme
Location: Bangkok, Thailand
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Vorlaut
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