
Die vorherrschenden Tiere meiner Kindheit waren Rabenkrähen, Amseln, Tauben sowie Hunde an der Leine. An Herbstabenden beobachtete ich von meinem Bett aus die Krähen in gigantischen, nicht abreißen wollenden Schwärmen, wie sie von der Deponie zu ihren Schlafplätzen auf den Rheininseln flogen, und darüber bin ich eingeschlafen. Die Vielfalt der Arten besuchte man in botanischen Gärten oder dem Frankfurter Zoo. Und hin und wieder ging es über den Eisernen Steg, darunter der Main: eine schaumig-braune, streng riechende Brühe, in der Schaumstoff trieb. Dann kam Peter Lustig 1979 ins Fernsehen, dessen erste Staffeln ›Löwenzahn‹ auch von diesen toten Flüssen und ähnlichem Öko-Horror handelten. Vielfalt, die allgegenwärtig sein sollte, war in meiner verseuchten Generation exotisch. Seither wurde es bestimmt nicht ideal, aber wieder vielfältiger.
Die Umweltschutzorganisation NABU kommt zu einer positiven Bilanz der alljährlichen Vogelzählung, bei der seit dem Frühjahr zweieinhalb Millionen Vögel aus Gärten und Parks gemeldet wurden. Allein in Hessen hatten mehr als 9.300 Beteiligte fast 199.000 Vögel gezählt. Auch bezüglich der Blaumeise, deren Anzahl nach einem bakteriell bedingten Massensterben besonders niedrig erwartet wurde, gab es gute Nachrichten. Der Bestand erholt sich. Andere Wesen fehlen in der Luft jedoch genauso wie dem deutschen Wald der Wolf oder der Luchs. Die Forschung nennt sie ›Spitzenpredatoren‹. Etwa wird der Bestand der Wanderfalken in Deutschland auf wenige 900 Paare geschätzt. In Hessen brüten etwa 70 bis 80 Paare, gern in Frankfurt, zwischen dessen Hochhäusern die Falken Jagd auf Tauben machen, die noch so überreichlich sind wie die Krähen in den Achtzigern. Es sind nicht nur Umweltgifte wie chlorierte Kohlenwasserstoffe und quecksilberhaltige Biozide, die sich seit Jahren in den Körpern der Greifvögel konzentrieren; manche Menschen vergifteten sie auch gezielt, um ihre Taubenzucht zu schützen.
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Die Lebensversicherung jeder Art ist Vielfalt
Vielfalt garantiert Überleben.
Isabel Allende
Wir nähern uns einer wichtigen Eigenschaft, die zu Vielfalt allgemein führt. Und das ist Offenheit, Toleranz, Wille zur Inklusion. Denn Zuwanderung kann Vielfalt wiederherstellen. Der Uhu etwa, der als Trophäe in den 1950er-Jahren beliebt und fast ausgestorben war, traut sich nach intensiven Auswilderungen in benachbarten Bundesländern wieder nach Südhessen und verbreitet sich im Rhein-Main-Gebiet. 200 Paare sollen es aktuell sein. Weitere bekannte ›Bioinvasoren‹ sind das Taubenschwänzchen, die Waschbären, die Nilgans und die Halsbandsittiche. Es ist vielleicht keine endemische Vielfalt, aber besser als die Monotonie, die das Sterben heimischer Arten mit sich bringt.
Aber kommen wir von schrägen Vögeln zu armen Teufeln. Wie den vom Katholizismus verfolgten Hugenotten, deren Los ein bemerkenswertes Exempel gesellschaftlicher Vielfalt darstellt. Sie mussten nach 1685 Frankreich fluchtartig verlassen. Ungefähr 40.000 Geflüchtete zogen in deutschsprachige Territorien, Brandenburg-Preußen nahm rund 20.000 auf. Rechtliche Grundlage für den starken Zuzug nach dem damals unbedeutenden Flecken Berlin war das Edikt von Potsdam, das der ›Große Kurfürst‹ Friedrich Wilhelm 1685 unterzeichnete. Der Titel: Chur-Brandenburgisches Edikt, Betreffend Diejenige Rechte, Privilegia und andere Wohlthaten, welche Se. Churf. Durchl. zu Brandenburg denen Evangelisch-Reformirten Frantzösischer Nation, so sich in Ihren Landen niederlassen werden daselbst zu verstatten gnädigst entschlossen seyn.
Der Kurfürst begründete seine Ermunterung, Hugenotten anzusiedeln, mit Mitleid für die protestantischen Glaubensbrüder und -schwestern. Neben den religiösen Gründen gab es aber erhebliche wirtschaftliche. Brandenburg war nach dem Dreißigjährigen Krieg verwüstet und durch Seuchen und Hungersnöte entvölkert. Die Wirtschaft lag am Boden und die Steuern reichten zum Wiederaufbau nicht. Die Lösung erkannte der schlaue Kurfürst in einer umfassenden ›Peuplierung‹, also der Ansiedlung vieler tüchtiger Neulinge.
Das Edikt von Potsdam richtete sich nicht an die bessergestellten Hugenotten, die das Exil in London oder Amsterdam vorzogen, sondern an mittellose, handwerklich qualifizierte Einwanderer. Plötzlich gab es in Berlin hervorragend ausgebildete Gerber, Seidenweber, Seifensieder, Tapezierer, Gobelinfärber, Perücken-, Handschuh- und Hutmacher, Strumpfwirker, Juweliere und Goldschmiede – die Designer des Merkantilismus. Und es gab Kaffee zum Frühstück! Diesen Exodus an Qualifikation und Lebensart würde Frankreich noch lange bereuen. Von manchen Privilegien, die damals lockten, ist unsere Wirtschaftspolitik trotz des aktuellen Fachkräftemangels weit entfernt: über lange Zeit Steuerbefreiung, die kostenlose Mitgliedschaft in den Zünften und schon damals Anschubfinanzierungen für Gewerbe und Grundstücke inklusive Bürgerrechte und Glaubensfreiheit. Zweihundert Jahre später war Berlin die größte Stadt der Welt! Hier wurde repräsentativ vorgelebt, wie die Vielfalt des Gewerbes zum Gewinn von Wirtschaftsmigration wird.
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Der Wert eines Dialogs hängt vor allem von der Vielfalt der konkurrierenden Meinungen ab.
Karl Raimund Popper

Migration ist ein die Menschheitsgeschichte durchziehendes, globales Geschehen. Es gelang noch nie, sich ihr in den Weg zu stellen. Bedingt durch die Weltkriege des 20. Jahrhunderts, regionale Instabilität, Globalisierung, digitale Revolution und Erderwärmung nimmt das Migrationsgeschehen an Komplexität aber rasant zu. Und wir müssen Methoden und Lösungen finden, bevor es zu spät wird, Migration wie anno 1700 fair gestalten zu können. Rund 7.977.000.000 Menschen leben gerade auf der Erde. Ende 2022 soll die Acht-Milliarden-Marke erreicht werden. Das sagen Prognosen der Vereinten Nationen, die zum Weltbevölkerungstag einen höchst interessanten Bericht veröffentlicht haben. Demnach sank die Bevölkerungswachstumsrate 2020 erstmals auf unter ein Prozent. In den 2080er-Jahren soll der Höhepunkt mit 10,4 Milliarden Menschen auf dem Globus erreicht sein. Die Bundesrepublik ist bereits jetzt für eine stabile Wachstumsrate auf einen Migrationszustrom angewiesen. Deshalb rät auch die UN, eine geordnete, sichere, reguläre und verantwortungsvolle Migration rechtlich und tatsächlich zu erleichtern!
Für Vielfalt durch Migration haben wir mit dem klugen Grundgesetz ein tolles Instrument. Unsere Verfassung gewährleistet eine offene, pluralistische und freiheitliche Gesellschaft. Sie organisiert unser Zusammenleben in Vielfalt, nicht in homogener Einfalt. Dabei wird keine Demokratie diktiert, wie uns Ignorant*innen weismachen wollen. Das Grundgesetz erhält uns die Demokratie, indem auf Basis der Verfassung Herrschaft kontrolliert wird. Das Resultat ist die größtmögliche Freiheit für alle Bürger*innen und jawoll: Freiheit ist anstrengend. Das muss sie auch sein! Unterschiede auszuhalten ist oft unbequem. Bildung kann dabei helfen. Wir kommen zum Schluss, dass Freiheit, Vielfalt und Nachhaltigkeit wahrscheinlich die geeignetsten Parolen für die Zukunft sind, wenn wir eine haben wollen. Außerdem macht Vielfalt lecker — und das wissen wir von VivArt nun wirklich am besten.
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Vielfalt, die nicht auf Einheit zurückgeht, ist Wirrwarr; Einheit, die nicht auf Vielfalt gründet, ist Tyrannei.
Blaise Pascal


Cover / Titelstory Fotos
Fotograf: Rui Camilo
Styling: Maren Assmus
Model: Beatrice H., @b_e_a_t_r_i_c_e_h
Location: Museum Wiesbaden
Kunst

Junge Fotografie und mehr

Quadratisch, praktisch, Kunst

Vorlaut
Café & Kuchen

Granola Tartelettes mit Kokosjohurt

Die Kunst der feinen Mischung
Kunst & Kultur

Junge Fotografie und mehr

Quadratisch, praktisch, Kunst

Vorlaut
Essen & Trinken

Rheinhessen genießen
Leckere Rezepte

Piroggen mit Sauerkraut-Pilz-Füllung

Spinat Gnocchi mit brauner Butter

Granola Tartelettes mit Kokosjohurt

Geschmurgelte Kichererbsen und Zwiebel mit Feta und Oregano
Mode & Fashion

Mode ist eine Rüstung

Frühlingssaison = Flohmarktsaison
