
Herr Wiegand, fangen wir mit dem Greifbarsten an: dem Gebäude von Rolf Prange. 1972 zog das damalige Landestheater – von da an als Staatstheater – in den prächtigen Neubau ein. Was war 2014 Ihr erster Eindruck?
Der Theaterbau ist imposant – von den Seiten außen vielleicht etwas abweisend. Aber spätestens im Foyer fühlte ich seine Transparenz und Modernität. Imposant ist allein schon die Fläche von rund 50.000 m2 und die klare Formensprache. Darmstadt leistete sich damals den größten Theaterneubau nach dem Krieg in der BRD, nachdem das Theater in der weitgehend zerstörten Stadt provisorisch in der Orangerie untergebracht war. Das Konzept von Rolf Prange war sehr durchdacht, z. B. haben wir neben der Bühne acht Meter hohe Staumöglichkeiten, um die Bühnenbilder abstellen zu können, ohne sie zerlegen zu müssen. Die kluge Raum- und Wegeplanung erleichtert uns bis heute den Arbeitsalltag. Vor allem aber schuf der Architekt einen Ort mit annähernd 1.000 Räumen, an dem er allen Gewerken ebenso ein Zuhause gab wie den Ensembles des Balletts, der Oper und des Schauspiels sowie dem Opernchor und dem Orchester. All diese Menschen haben unterschiedliche Blicke auf die Welt, über die sie sich bei uns aufgrund der räumlichen Nähe unmittelbar austauschen können. Die Beschäftigten der Schneiderei sehen bei den Proben, wie ihre Kostüme ›funktionieren‹, und könnten direkt anpassen. Oder die Regie bespricht Änderungswünsche direkt mit den Werkstätten.
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Jeder Abend muss eine eigene Dringlichkeit haben, einen starken Grund, warum es ihn gibt.
Karsten Wiegand
Die vielfältigen Perspektiven von 550 Beschäftigten unter einem Dach zu haben, ist sicher befruchtend. Die Sanierung durch Arno Lederer ab 2002 sorgte zudem für attraktive und öffnende Akzente.
Offen ist das Haus aufgrund der vielen Freiräume wie dem Foyer oder der Terrasse, die wir für unterschiedliche Formate nutzen. Mal gibt es Raum für Kammerkonzerte, mal ein Tanzfestival oder auch ein Spielplatz für Kinder. Das Gebäude bietet immense Möglichkeiten und wir erleben es wie ein Gesellschaftslabor, auch mit den Bruchlinien und Spannungen, die wir im Zusammenleben allerorten sehen können.
Wie erleben Sie Darmstadt?
Als enorm spannend. Diese Stadt hat zwei Perspektiven. Durch die Historie als Residenzstadt ist sie mit Traditionen behaftet – es gibt eindrucksvolle gebaute Erinnerung, doch vieles wurde zerstört. Danach hat sich Darmstadt neu erfunden als Wissenschafts- stadt mit Hochschulen, internationalen Forschungseinrichtungen und Unternehmen. Damit geht eine Aufgeschlossenheit einher, die zukunftsgerichtet und selbstbewusst ist.
Wie zahlt das auf Ihre Arbeit ein?
In Form eines sehr vielfältigen Publikums. Internationalen Fachkräfte, die in der Stadt leben, haben unser Ballett für sich entdeckt. Die Geschichten und Gefühle im Tanz vermitteln sich unmittelbar ohne jede Sprachbarriere.
Im Ensemble selbst sind auch viele Nationalitäten vertreten…
Richtig. Und für ein vielfältiges Publikum ist es ja befruchtend, Menschen auf der Bühne zu sehen, die auch von sehr diversen Erfahrungen geprägt sind, damit man Eigenes und Fremdes auf der Bühne entdecken kann. Wir hatten schon 2014 im Schauspiel ein inklusives Ensemble gegründet – und auf einmal viel mehr Rollstuhlfahrende im Publikum.
So gewinnen Sie neue Besucherinnen und Besucher?
Aber Ja, Vielfalt ist ein Schlüssel. Das Theater hat lange versucht, Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen für ›Nathan der Weise‹ oder ›Tosca‹ zu begeistern. Es beginnt glaube ich aber eher damit, dass das Theater sich ehrlich für Menschen und ihre Geschichten interessiert, die bisher nicht im Fokus standen. Dann interessieren diese sich auch für das Theater. Deshalb bringen wir neben den Klassikern, die es immer wieder neu zu entdecken gilt, neue Stücke auf die Bühne. In ›Drei Kameradinnen‹ etwa geht es um drei junge, migrantisch gelesene Frauen und ihre Erfahrungen mit Rassismus und Ausgrenzung.
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Darmstadt steht für ein farben- frohes, neugieriges Theater.
Karsten Wiegand

So gewinnen Sie neue Besucherinnen und Besucher?
Ja, Vielfalt ist ein Schlüssel. Das Theater hat lange versucht, Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen für ›Nathan der Weise‹ oder ›Tosca‹ zu begeistern. Es beginnt glaube ich aber eher damit, dass das Theater sich ehrlich für Menschen und ihre Geschichten interessiert, die bisher nicht im Fokus standen. Dann interessieren diese sich auch für das Theater. Deshalb bringen wir neben den Klassikern, die es immer wieder neu zu entdecken gilt, neue Stücke auf die Bühne. In ›Drei Kameradinnen‹ etwa geht es um drei junge, migrantisch gelesene Frauen und ihre Erfahrungen mit Rassismus und Ausgrenzung.
Dafür ist auch ›Wo ist Emilia G.?‹ ein gutes Beispiel, ein zum Teil mit Laien besetztes Stück.
Ja, ein Theater darf nicht nur senden, sondern muss auch empfan- gen. Wir hatten uns für eine Art inszenierten Rundgang nach Kranichstein – ein Hochhaus-Viertel von Darmstadt – aufgemacht, um für eine Produktion in Kontakt mit jungen, teils migrantisch gelesenen Menschen und ihren Erzählungen zu kommen. Als nächstes Projekt kamen die Akteurinnen und Akteure aus Kranichstein ins Theater und entwickelten in Anlehnung an Lessings Figur ›Emilia Galotti‹ einen Theaterabend von großer Dynamik, Witz und Sprengkraft über Machtverhältnisse, auch am Theater. Der Zusammenprall der Lebenswirklichkeit der jungen Spieler*innen mit dem Klassiker war toll und brachte auch neues Publikum.
Wer ist sonst noch im Publikum zu finden?
Immer solche Menschen, deren Geschichten wir erzählen und die zugleich neugierig sind, etwas Neues oder Fremdes zu erfahren.
Ist es Ihr Rezept, jeder ›Community‹ eine eigene Produktion zu bieten?
Nein, die Geschichten, die wir auf der Bühne erzählen, vermischen sich, oder sie prallen auch mal aufeinander, wie es die Menschen im echten Leben im Rhein-Main-Gebiet tun. Das ist ein ständiger Prozess. Dabei ist auch das Stammpublikum, das Bildungsbürgertum, neugierig auf andere Menschen, neue Erzählungen und Wirklichkeiten. Das Theater ist ein Ort, an dem man etwas erfahren kann, das man noch nicht wusste.
Klingt ein wenig nach Gemischtwarenladen …
Wenn damit Vielfalt gemeint ist, stimme ich dem aus vollem Herzen zu. Wir sind ein großes Theater für eine große Stadt. Wir bieten einen kontrastreichen Spielplan, der offen und stimmig ist. Die Mischung kann nur Energie und Qualität entfalten, wenn wir uns nicht in Belie- bigkeit verlieren. Jeder Abend muss eine eigene Dringlichkeit haben, einen starken Grund, warum es ihn gibt. Das kann auch einfach richtig gute Unterhaltung sein. Falsche Kompromisse, Unentschie- denheit, es allen recht machen wollen – all das verwischt Vielfalt. Darmstadt steht für ein farbenfrohes, neugieriges Theater. Wenn neue Akteur*innen auftreten, wenn wir ins Unbekannte gehen und wenn wir den Mut haben, auch mal zu scheitern, kann große Kunst entstehen und der Horizont wird weiter.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Wiegand.
Staatstheater Darmstadt
Georg-Büchner-Platz 1, 64283 Darmstadt.
Vorverkaufskasse: 06151 2811600
Location: Museum Wiesbaden
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